Budapest. Mit einer Zweidrittelmehrheit erwirkte Viktor Orbáns Fidesz-Partei im Sommer 2018 eine Verfassungsänderung, die Wohnungslosen den Aufenthalt im öffentlichen Raum untersagt. Über ein Dasein im Schatten der Gesellschaft. Und wo die Politik versagt.
Wer Wohnung oder Arbeit verliert, endet oft auf der Straße – oder eben im Gefängnis. Es ist der erste Sommer, in dem Obdachlosigkeit in Ungarn als Straftat geahndet wird. Was für die Regierung eine Lösung darstellt, erschwert laut Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen den 30.000 Obdachlosen Ungarns seit Oktober das Leben. Nach drei Verwarnungen innerhalb von 90 Tagen kann man bereits zu gemeinnütziger Zwangsarbeit oder sogar zu einer Haftstrafe verurteilt werden – Strafmaß: 60 Tage. Rechtsbeistand gibt es keinen. Freiwillige Anwälte schließen sich zusammen, um Betroffenen kostenlose Beratung anzubieten. Sie wollen Präzedenzfälle schaffen, auf die sich Angeklagte in Zukunft berufen können.
Kein Platz
„Insgesamt haben wir in den letzten Monaten 15 obdachlose Klienten vertreten“, erzählt Adam Takács von der „Streetlawyer Association“ (SLA) in Budapest. „Die Polizei hat anfangs gezögert, Obdachlose formal zu verwarnen. Das lässt hoffen. Es ist ermutigend, zu sehen, dass Beamte im Vollzug ihre Positionen vertreten, auch wenn die Regierung unsinnige Gesetze erlässt.“
Viele Obdachlose ziehen sich dennoch aus der Innenstadt in die Außenbezirke zurück. Sie schlafen auf den Grünflächen zwischen Autobahnen oder leben in der Gunst gleichgültiger Grundstücksbesitzer in den Wäldern der Vorstädte. Das Grundproblem sind vor allem fehlende Kapazitäten: Für 30.000 Obdachlose stehen Schätzungen zufolge gerade einmal 11.000 Plätze in Heimen zur Verfügung. Rund 35 Euro pro Monat zahlt man dabei für ein Bett in einer Budapester Notunterkunft – selbst das ist für einige zu viel. Die Regierung verbucht die steigende Heimbelegung einstweilen als Erfolg. Man wolle die Menschen von der Straße in die Heime holen, sagt Attila Fülöp, Staatssekretär für soziale Angelegenheiten, in einer Pressekonferenz. Die Unterkünfte wären laut NGOs im Winter jedoch generell häufiger besucht, das hätte nichts mit der Gesetzesnovelle zu tun.
“Das Recht, Rechte zu haben”
„Wir glauben, wir sollten den Obdachlosen zusätzliche Hilfe und nicht zusätzliche Rechte gewähren“, betont Staatssekretär Bence Rétvári in einem Interview mit „HirTV“ kurz nach der Einführung des Gesetzes. Rechtskritikerin Hannah Arendt hätte wohl widersprochen. Jeder Mensch hat „das Recht, Rechte zu haben,“ formulierte sie in den 1950er Jahren, zu Zeiten der Verabschiedung der UNO-Menschenrechtserklärung. Nur wem staatsbürgerliche Rechte zukämen, könne auch als Teil der Menschheit agieren.
Natürlich sind Ungarns Obdachlose noch rechtliche Subjekte. Es handelt sich hierbei aber vorwiegend um passive Rechte, die von der ungarischen Regierung zusätzlich beschnitten werden. So sehen das auch rund 1.600 Rechtsanwälte und Richter. Sie unterzeichneten laut der Deutschen Presse-Agentur (dpa) im Oktober eine Petition gegen das Obdachlosengesetz. Wie das Nachrichtenportal „index.hu“ berichtet, erhoben sie daraufhin eine Klage beim Verfassungsgericht. Die neue Regelung verletze unter anderem das Verbot der Diskriminierung und des Entzugs von Grundrechten.
„Wir warten immer noch auf eine Stellungnahme des Verfassungsgerichts“, sagt Adam Takács von der Streetlawyer Association. Die neue Entscheidungsfrist ende zwar am ersten Juli, sei aber in der Vergangenheit bereits mehrmals verschoben worden. „Manche Juristen unserer Organisation meinen, dies liege an der Komplexität des Falls. Aber wenn Sie mich fragen, ist das Absicht. Das Verfassungsgericht ist voll von Richtern, die von der jetzigen Regierung berufen wurden. Die würden nie gegen die Interessen ihrer Politiker entscheiden“, so Takács.
Erst mal eine Wohnung
Einstweilen versuchen Hilfsorganisationen wie die SLA, Lebensraum für die Vertriebenen zurückzugewinnen. Denn obwohl so viele Menschen auf der Straße leben, gibt es allein in Ungarns Hauptstadt Zehntausende leerstehende Apartments. Diese könne man, so NGOs, mit der Hilfe Freiwilliger renovieren und als Sozialwohnungen nutzen. „Den Steuerzahler würde das mit ziemlicher Sicherheit weniger kosten als die Strafverfolgung eines Obdachlosen“, sagt Takács. Rechtlich gesehen müsse man nur ein paar Gesetzesänderungen vornehmen, dazu sei die Regierung jedoch nicht bereit: „Für die Politiker ist das eine kommunistische Idee. Sie sehen nur die Ausgaben und nicht den positiven Effekt dahinter“, so Takács.
Für viele Wohnungslose ist ein Eigenheim der erste Schritt zurück in die Normalität. Umgekehrt bedeutet dessen Verlust, in eine gesellschaftliche Ausnahmesituation zu geraten. Zwangsräumungen sind in Ungarn durchaus an der Tagesordnung: Seit 2012 hat sich deren Anzahl mehr als verdoppelt. „Meist sind Familien am Rande der Gesellschaft betroffen“, sagt Takács. „Sie kommen panisch zu uns mit einem Räumungsbescheid in der Hand. Häufig verstehen sie das Schreiben nicht einmal richtig, weil es im Fachjargon verfasst wurde. Dann müssen wir es für sie erstmal ins Ungarische übersetzen.“
Working poor
In die Obdachlosigkeit abzurutschen, ist in Ungarn keine Seltenheit. Seit Orbáns Regierungsantritt vor zehn Jahren ist die Armutsquote in die Höhe geschossen: Laut dem ungarischen Statistikamt KSH galten 2,54 Millionen der rund 10 Millionen Ungarn 2015 als arm oder armutsgefährdet. Nahezu ein Drittel. Die Dunkelziffer könne noch viel höher sein, wenn man bedenkt, dass das KSH parteilich kontrolliert ist, wie die ungarische Tageszeitung „Pester Lloyd“ berichtet. Bereits 2013 wäre die Grenze für das Existenzminimum per Gesetz herabgesenkt worden, um unter anderem die Zahlen zu beschönigen. Wo die Not nicht zu verheimlichen ist, mache man den westlichen Neoliberalismus oder das Erbe der Sowjetunion verantwortlich.
Gleichzeitig ist Ungarn der Wachstumschampion Europas. Gemäß „Statista“ stiegen die Reallöhne 2018 um fünf Prozent, heuer dürfte es ähnlich gut laufen. Ungarn, vor einem Jahrzehnt noch kurz vor der Staatspleite, sei nun gemeinsam mit Tschechien, Polen und der Slowakei der „wirtschaftliche Motor und die Lokomotive der europäischen Union“, so Orbán in einer Rede 2018. Internationale Konzerne wie Audi oder Daimler sorgen mit ihren zahlreichen Produktionsstätten für Arbeitsplätze. BMW baut gerade ein Milliarden Euro teures Werk in Debrecen. Und die Arbeitslosenquote Ungarns ist mittlerweile die drittniedrigste der EU. Es stellt sich die Frage: Wieso ist die Bevölkerung immer noch so arm?
Sklavengesetz
Die Kehrseite: Orbáns Regierung habe die Verbrauchssteuer in den letzten Jahren immer wieder angehoben, was vor allem jenen schade, die einen höheren Anteil ihres Einkommens für Lebensnotwendiges ausgeben müssen, wie „Pester Lloyd“ berichtet. Zugleich wurde die Körperschaftssteuer 2017 auf das niedrigste Niveau der EU herabgesenkt, „um europaweit die besten steuerlichen Konditionen anzubieten“, kündigte Orbán kurz vor der Einführung der Reform an. In Verbindung mit niedrigen Arbeitskosten führte dies, so „Der Standard“, zur Ansiedelung großer Konzerne, vor allem aus der Automobilbranche.
Dank Orbáns Aversion gegen Einwanderung, der Emigration zahlreicher Ungarn und seinem Unwillen gegen Armut vorzugehen, fehlt es Unternehmen jedoch an qualifiziertem Personal. Nun hat Ungarn mit einem leergefegten Arbeitsmarkt zu kämpfen. Anstatt die Löhne anzuheben, um attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen, werden Arbeitszeiten gesetzlich verlängert. Was von Gegner als „Sklavengesetz“ bezeichnet wird, ermächtigt internationale Konzerne wie BMW oder Audi seit Dezember dazu, ihre Angestellten zu 400 Überstunden pro Jahr zu verpflichten – das ergibt einen zusätzlichen Wochenarbeitstag.
Elend mit System
Doch wieso verabschiedet die ungarische Regierung Gesetze, die die eigene Bevölkerung in die Armut treiben? „Es hat viel damit zu tun, wie Sozialpolitik von Orbán gedacht wird“, sagt Tobias Spöri, Experte für Osteuropastudien an der Universität Wien. „Orbán bevorzugt Menschen, die etwas für die ungarische Nation leisten. Nur sie sollen seiner Meinung nach von den Sozialleistungen des Staates profitieren. Hier stellt sich natürlich die Frage, wer zur ungarischen Nation gehört und wer nicht“, sagt Spöri. So spricht Orbán 2014 in einer Grundsatzrede davon, dass sich Ungarn in einem globalen Wettkampf befinde und demnach besonders arbeitsam sein müsse. „Das impliziert bereits: wer nicht arbeitet, trägt nichts zum Erfolg der ungarischen Nation bei und soll dementsprechend weniger unterstützt werden“.
Es ginge Orbán jedoch nicht darum, die Bevölkerung per se arm zu halten, “das wäre politischer Selbstmord“, betont Spöri. Vielmehr hätte es Orbáns Politik schon immer gedient, Minderheiten, die nicht zur ungarischen Nation passen, als Feindbilder zu stilisieren, um sie aus der Gesellschaft auszugrenzen. Ganz gleich ob Geflüchtete, Roma und Sinti oder Obdachlose. „Die Fidesz-Partei braucht einen Gegner – und die Opposition in Ungarn taugt nicht so recht als Gegner“.
Dies erklärt auch, warum Maßnahmen gegen Armut meist wirkungslos bleiben. Laut Spöri gäbe es zwar Programme, mit denen die ungarische Regierung versucht, die Obdachlosen wieder für den Arbeitsmarkt zu aktivieren, „dafür braucht es aber viel mehr als nur ein Jobcenter“.
Schwere Zeiten für NGOs
Beim Versuch die Armut in Ungarn zu lindern, werden Hilfsorganisationen seit Neuestem Steine in den Weg gelegt – und von der eigenen Regierung. Vor allem nach dem im April verabsäumten „Stop-Soros“-Gesetzespaket sind Repressalien gegen NGOs keine Seltenheit mehr. Sie sind bereits an der Grundhaltung Orbáns abzulesen: In einer Rede, die er 2014 im rumänischen Băile Tușnad hielt, bezeichnete er NGOs als „vom Ausland bezahlte politische Aktivisten“, die versuchen würden, in Ungarn ausländische politische Interessen durchzusetzen.
„Diese Taktik kennt man bereits aus Russland, das ist nichts neues“, sagt Tobias Spöri, „man darf auch nicht vergessen, dass Orbán sehr viel Macht über die Medien hat, was seinem Vorgehen gegen Zivilorganisationen natürlich nützt.“ Das trage auch dazu bei, dass sich die Unterstützung von der Öffentlichkeit für NGOs in Grenzen hält: „Maßnahmen von der Regierung und ein mediales Klima, in dem viele NGOs an den Pranger gestellt werden, manifestieren sich auch in der Bevölkerung“.
Strassburg konterte im September letzten Jahres mit einer Anklage nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Dabei handelt es sich um ein Rechtsstaatsverfahren, das wegen schwerwiegender Verletzungen der Demokratie eingeleitet werden kann. Neben Polen steht damit auch Ungarn am europäischen Pranger.
Soziale Kälte auch in Österreich
Die Kriminalisierung von Obdachlosen ist inzwischen ein europaweiter Trend. Das Nächtigen unter freiem Himmel wird auch in Österreichs Städten immer häufiger bestraft: Zuletzt erklärte die Stadt Innsbruck 2017 Obdachlosigkeit zum Verwaltungsdelikt. Hier kann nun ein Bußgeld von bis zu 2000 Euro verhängt werden – wer nicht zahlt, dem droht eine Freiheitsstrafe.
Möchte man sich in Salzburg als Wohnungsloser vor Wind und Wetter schützen, verstößt man neuerdings gegen eine Campierverordnung. Wie “Der Standard” berichtet, erhielten vergangenen Winter bereits mehrere Personen Strafbescheide in Höhe von jeweils 200 Euro, weil sie sich mit Plastikplanen vor der Feuchtigkeit abschirmten.
Über die Streetlawyer Association (SLA)
Ein ungewöhnliches Bild: Jeden Freitag, bei jedem Wetter, findet man am Blaha Luiza Platz in Budapest zwei Rechtsanwälte. Während eine Unterführung Schutz vor Regen oder Sonne bietet, kann man sich von ihnen rechtlich beraten lassen – und das vollkommen kostenlos. Für über 300 Menschen im Jahr sind die freiwilligen Mitarbeiter der SLA die einzige Möglichkeit, Rechtsbeistand zu erhalten. Vielen Klienten drohen Zwangsräumungen oder sie werden aufgrund ihres sozialen Statuses von den Budapester Behörden diskriminiert. Erst vor Kurzem konnte die SLA einen dreijährigen Prozess für eine obdachlose Aktivistin gewinnen, der Sozialleistungen verweigert wurden.
Die SLA arbeitet eng mit “A Város Mindenkié” – zu deutsch “Die Stadt gehört allen” – zusammen, eine Organisation, die sich in Budapest für soziale Gerechtigkeit und Lebensraum für Obdachlose einsetzt. Sie organisiert regelmäßig Proteste, vor allem gegen Zwangsräumungen.
Tobias Spöri
Tobias Spöri, Jahrgang 1988, studierte Germanistik und Politikwissenschaften in Frankfurt und Wien, ehe er sein Doktorat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien begann. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Politische Partizipation, Politische Sozialisation und Transformationsprozesse in Zentral- und Osteuropa.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Medien-Lehrgangs 2019 als journalistische Praxis-Arbeit. Thema und Inhalt dieses Beitrags wurden durch die Autorin selbstständig gewählt und recherchiert.