Ein wohlig warm-temperiertes Zimmer im zweiten Stock eines Hauses in der Wiener Innenstadt – das Figlhaus. Bei Kuchen und Kaffee lernen wir jungen Menschen aus den verschiedensten Parteien, Organisationen und Weltanschauungen Srebrenica zum ersten Mal kennen – in der Theorie, in Form einleitender Worte von Kollegen, die bereits dort waren, die erzählen, was sie erlebt haben, wie sehr sie das Gesehene geprägt hat. Dann ist da ein Regisseur, der Srebrenica auf die Bühne holt und das von einem Theaterpublikum eher ungewöhnlich emotional aufgenommen wurde. Ein Diplomat erzählt von der schwierigen Mission in der Ukraine, auch hier fallen Parallelen zu diesem mysteriösen Srebrenica. Man kennt die Geschichte, aber etwas scheint daran zu sein, das man nicht aus Büchern und dem Internet entnehmen kann. Es geht offenbar um Empfinden, um das Erleben vor Ort, um Begegnungen und Erfahrungen.
Zeitsprung, einige Wochen später. Frühmorgens trifft sich eine zehnköpfige Gruppe, allesamt gestandene Charaktere, aber so unterschiedliche, dass diese zehn wohl nie an einem Ort zusammengekommen wären. Es ist ein bewusster Schritt heraus aus der eigenen Komfortzone, ein Einlassen auf Neues, auf Anderes, auf andere Personen und Sichtweisen außerhalb der eigenen, vielzitierten „Bubble“. Im Laufe der nächsten 5 Tage werden sich viele Gespräche ergeben, die einen nachdenklich machen, seine eigene Sichtweise hinterfragen lassen, die einem neue Impulse mitgeben.
Bei Tuzla verfahren wir uns
Die Fahrt ist lange und beschwerlich. Doch das fällt schon lange nicht mehr ins Gewicht. Seit dem Grenzübergang zu Bosnien erleben wir ein anderes, ein düstereres Europa. Einige Meter zuvor, die Europäische Union. Ausgebaute Autobahnen. Geschäftiges Treiben. Hoffnung.
Je näher wir unserem Ziel kommen, desto bedrückender, leerer, hoffnungsloser wird es. Die Einfahrt in Srebrenica, jenem Ort, an dem an einem heißen Tag im Juli 1995 über 8000 Menschen, wehrlos, schutzlos, grundlos, ermordet wurden, nach 12 Stunden Autofahrt, ein prägendes Erlebnis. Prägend, dieses Wort wird in den nächsten Tagen noch öfter fallen. Die Straßen leer, viele Häuser, verlassen, die meisten mit sichtbaren Einschusslöchern. Es kommt einem vor, als wäre der Krieg erst wenige Tage vorbei, oder aber es wäre damit die Zeit stehen geblieben. Die Müdigkeit ist dann doch stärker, die Erleichterung, endlich im Hotel angekommen zu sein größer.
Ein paar Bretter sind bereits angebracht, ein paar Einheimische arbeiten bereits
Bereits am nächsten Tag geht es auf die Baustelle. Erstbegehung in unser Projekt. Der zahnlose Hausherr bringt seinen selbstgebrannten Schnaps. Eine erste Begegnung mitten in Srebrenica. Danach folgen weitere Begegnungen. Wir besichtigen die große Anlage eines Bio-Gemüsebauern, der gibt uns sogleich etwas zum Probieren mit. Namir, der Projektleiter vor Ort, erzählt und übersetzt uns die Geschichte des Bauern. Er hat selbst viel erlebt, hat nun aber wieder Hoffnung, weil er eine Perspektive hat. Wir begegnen Menschen, die ein Haus der Organisation, auf deren Einladung hin wir hier sind, bekommen haben.
Wir besichtigen die Gedenkstätte und den Friedhof, fahren dann fassungslos und bedrückt zurück. Das Grauen, dass sich hier abgespielt hat, ist in Worten nicht zu beschreiben. Die Präsenz dessen ist im ganzen Ort, in jeder Begegnung zu spüren. Dennoch ist unser nächster Halt eine Musikschule, ebenfalls von „Bauern helfen Bauern“ initiiert. Hier ergibt sich ein völlig anderes Bild: lachende Kinder, über 400 aller Ethnien, die tobend durch die sonst so leeren Straßen trommeln und tröten. Fenster und Türen werden geöffnet, Anfeuerungen zugerufen, Lächeln verteilt. Dann verschwinden die Kinder wieder in der Schule, die Fenster schließen sich wieder, Stille legt sich wieder über die Straßen.
Die Kinder der Opfer und die Kinder der Mörder spielen und musizieren zusammen
Dieser Funken Hoffnung, auf den sind der Schuldirektor und seine LehrerInnen stolz. Wir bekommen im Inneren noch mehrere tänzerische und gesangliche Privatvorführungen der motivierten Kinder unterschiedlicher Ethnien – überspritzt formuliert musizieren hier die Kinder der Opfer mit den Kindern der Mörder, friedlich und ohne Vorurteile, zusammen.
Der Hausbau, nur eines von über 1200, die BhB bisher für serbisch und muslimische Familien gebaut hat, geht dann überraschend schnell und unkompliziert von statten. Diese 10 verschiedenen Menschen, zusammen mit den Einheimischen, die sogar eine fremde Sprache sprechen, arbeiten Seite an Seite, unabhängig ihrer politischen Einstellung, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Sprache, miteinander an der Verwirklichung eines Projektes. Und es macht sogar Spaß, es wird gelacht, gearbeitet, Schnaps getrunken. Am Ende steht da ein Haus, nichts Besonderes, ein Zimmer unten, ein Bad, und ein kleines Zimmer oben. 45m² maximal, eine junge Familie mit ihrer kleinen Tochter Fatima bekommt den Schlüssel und zieht ein. Bei der Abfahrt sehen wir sie strahlend und winkend am Balkon.
Abschließend machen wir eine Bootsfahrt auf der Drina, dem Grenzfluss zwischen Serbien und Bosnien, Menschen winken uns von beiden Seiten her zu. Ein Mann sieht uns in unseren „Bauern helfen Bauern“ Pullovern und zahlt spontan unsere kleine Bootsfahrt – aus Dankbarkeit, weil die Organisation so viel für Srebrenica und seine Menschen tut. Auch hochrangige Vertreter, der HR Inzko oder die österreichische Botschafterin Hartmann, aber auch bedeutende Locals, etwa der Imam der Gemeinde, der uns in seine Moschee einlädt, oder der katholische Pfarrer, der für uns in einer winzigen Kapelle am Straßenrand eine zweisprachige Messe organisiert, erzählen uns vom Leben in Bosnien und in Srebrenica. Es wird deutlich, dass hier noch viel geschehen muss, vieles scheinbar hoffnungslos wirkt, aber die Menschen hier nicht aufgegeben haben.
Bis auf „Bauern helfen Bauern“ ist hier niemand mehr
Wenn man hier, angesichts der Trostlosigkeit, die wir erlebt haben, immer noch nicht aufgibt, wie kann dann Europa hier aufgeben? Bis auf „Bauern helfen Bauern“ ist hier niemand mehr, es kümmert niemanden, was eine Autofahrt 12 Stunden entfernt von Wien vor sich geht. Wir haben aber auch die Hoffnung erlebt, haben gesehen, wie Kinder zusammen an einem Strang ziehen, wie Menschen unterschiedlichster Parteizugehörigkeiten und Wertehaltungen gemeinsam in 3 Tagen ein Haus bauen. Was hier, im von der Welt aufgegebenen Srebrenica möglich ist, muss auch im reichen Österreich 12 Autostunden entfernt möglich sein.
Doch hier, im Land des Überflusses, des Friedens und der Freiheit, erleben wir Tag für Tag Zankereien, politische Grabenkämpfe, Hass zwischen Kulturen, Ethnien und Parteien. Die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft in Österreich, sie wirkt nach dieser Woche Srebrenica mit all den Eindrücken und Erfahrungen geradezu lächerlich. Hier haben die einen eine Wahl verloren, die anderen haben gewonnen. Hier sind wir uns uneinig über Steuern, Migration oder die Frage, ob ein Grüner oder ein Blauer Bundespräsident wird, ob ein Türkiser oder ein Roter Kanzler wird. Das reicht für uns, unsere Gesellschaft der Spaltung zu überlassen. Dort wurde ein Völkermord begangen, manche anerkennen ihn immer noch nicht. Das ist dort kein Grund, nicht alles zu versuchen, um sich aus der Misere zu befreien, gemeinsam.
Wenn es die Menschen von Srebrenica schaffen, hoffnungsvoll in die Zukunft zu sehen, der Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, gemeinsam zu werken und wirken, wie können wir es dann rechtfertigen, aufgrund politischer Befindlichkeiten dies nicht zu tun? Wenn es eine kleine Gruppe von Menschen verschiedener Weltanschauungen, Sprachen und Parteizugehörigkeit schaffen, gemeinsam ein Haus zu bauen und wertschätzend miteinander zu arbeiten, warum verdammt noch mal schaffen wir es hier nicht, in einem Land, wo die Probleme vergleichsweise klein und häufig sogar konstruiert sind, an einem Strang zu ziehen und unsere parteipolitischen Differenzen der Sache unterzuordnen?!
Jeder Politiker braucht eine “Srebrenica”-Erfahrung
Was ich für meine politische Arbeit aus der Srebrenica-Erfahrung gelernt habe, ist die unumstößliche Erkenntnis, dass man Menschen nicht begegnen kann, Probleme nicht lösen kann und Brücken nicht bauen kann, wenn man dem Gegenüber als Politiker, als Parteizugehöriger, als Österreicher, als Christ, als was auch immer begegnen kann, sondern immer nur als Mensch, der einem anderen Menschen zuhört, ihn zu verstehen versucht und ihn vor allem wertschätzt; und die Einsicht, dass die Sache immer höher einzustufen ist als eigene Befindlichkeiten. Einem jeden Politiker, einem jeden Menschen in Österreich sei eine derart prägende Begegnung in Srebrenica empfohlen. Ich für meinen Teil bin als jemand anderer zurückgekommen, als ich vor meiner Abreise war. Und dafür bin ich dankbar.
Der Geist von Srebrenica kann Berge versetzen, auch und vor allem in weit privilegierteren Gegenden wie Österreich.
Mehr Infos zur Initiative “Politisch.Neu.Denken.”