Nicht wegschauen


von Otto Neubauer am

Vom konkreten Engagement und den heidnischen Christen.

Ich gestehe, dass ich zurzeit täglich geradezu fiebrig nach den kleinsten Hoffnungsschimmern Ausschau halte. Einer davon ist, dass der ukrainische Präsident Selenskyj erneut mit Papst Franziskus telefoniert hat. Franziskus habe ihm „wichtige Worte“ gesagt, so Selenskyj. Und mit dem, der sich offensichtlich auf die Seite Putins geschlagen hat, der Moskauer Patriarch Kyrill I., hatte Papst Franziskus erst vor kurzem eine Videokonferenz. Über den Inhalt dieser Unterhaltungen wissen wir nichts. Auch nicht, warum ein Gespräch mit Präsident Putin und dem Papst bisher nicht möglich war. Nicht gut kommuniziert wurde, dass sich der Papst wiederholt offensiv für Friedensverhandlungen angeboten hat. Aber ich vertraue wirklich darauf, dass die diplomatische Arbeit des Heiligen Stuhls dazu unter Hochdruck läuft. Zwei seiner vertrauten Kardinäle hat der Papst jedenfalls als seine Gesandten direkt ins Kriegsgebiet nach Kiew geschickt, um seine Nähe zu den Leidenden auszudrücken. Und dennoch scheint jeder friedensstiftende Versuch erfolglos. Wenn es nach dem Kiewer Bürgermeister Klitschko geht, so sei der Papst der jetzt am meisten ersehnte Besuch in Kiew. Und ich vermute – in Moskau wohl der am meisten gefürchtete.

Eindringliche Appelle

Wenn auch angesichts der unermesslichen Tragödie des Krieges kein Vergleich und nicht zwingend erwähnenswert, so bewegt mich bei näherem Hinsehen doch, wie der 85-jährige Papst, der sich aufgrund schwerer chronischer Schmerzen im Knie nur mehr schwer fortbewegen und sich selbst beim Stehen kaum halten kann, sich zu den kriegsverletzten Kindern in ein römisches Krankenhaus schleppt. Unentwegt empfängt er Menschen, um nur irgendwie Hilfe leisten zu können. Täglich telefoniert er mit Menschen aus dem Kriegsgebiet. Aber all seine eindringlichen Appelle, den „Wahnsinn dieses Krieges“ zu stoppen, verklingen. Und was für mich und wohl für die meisten von uns so unerträglich ist: der Krieg und das Sterben gehen unbeirrt weiter.

Unseren Blick dem Gräuel zuwenden

Bin ich nach mehreren Wochen des Zuschauens schon müde? Es hilft mir, wenn der hochbetagte Papst uns dennoch eindringlich bittet, unseren Blick ganz bewusst dem Gräuel zuzuwenden: „Denken wir an die vielen Soldaten, die an die Front geschickt werden – junge russische Soldaten… Denken wir an die vielen jungen ukrainischen Soldaten. An die Einwohner, die jungen Leute, die Kinder… All das geschieht in unserer Nähe. Das Evangelium verlangt von uns, nicht wegzuschauen – Wegschauen ist die heidnischste Haltung überhaupt für einen Christen. Ein Christ, der sich daran gewöhnt, wegzuschauen, wird zu einem als Christ verkleideten Heiden.“

Konkretes Handeln

Nun ist die Hilfsbereitschaft der Nachbarländer für die aus der Ukraine Flüchtenden doch enorm beeindruckend. Aber der Papst drängt uns weiter, dass wir alle „diesem gemarterten Volk“ nahe sind, „umarmen wir es mit Zuneigung, konkretem Engagement und Gebet“, so Franziskus. „Bitte, gewöhnen wir uns nicht an Krieg und Gewalt, werden wir nicht müde, sie (die Flüchtlinge) mit Großzügigkeit zu empfangen, wie wir es gerade tun. Aber nicht nur jetzt, im Augenblick der Not, sondern auch in den kommenden Wochen und Monaten“. Er wiederholt es so oft, als müsse er mich aus einer möglichen zunehmenden Erstarrung herausholen. Und dass wir all die Gebete und mitfühlenden Emotionen nicht als Ersatz, sondern als Motor für ganz, ganz konkretes Handeln leben sollen. Sonst werde es heuchlerisch, wovor er schon so oft warnte – und mich dabei einmal mehr ordentlich herausfordert.

Gefährlich ist das Unsichtbare

Nicht minder herausfordernd war für uns in diesen Tagen im Rahmen unseres EU-Lehrgangs im Wiener Figlhaus der Bericht von Hans Georg Mockel, einem Freund und Unterstützer unserer Initiative „Politisch.Neu.Denken“. Er informierte uns umfassend über die jüngeren Entwicklungen, vor allem aber über die ganz aktuelle Situation in der Ukraine. Mockel kennt aus vierjähriger Erfahrung im Leitungsstab der OSZE-Sonderbeobachtermission in der Ukraine (noch vor diesem Angriffskrieg) die Situation im Land bestens. Als Chef für Personal, Finanzen und Technik betreute er diese Mission von Kiew aus und war natürlich auch im Osten des Landes unterwegs. Unmissverständlich hält er angesichts seiner Erfahrung in der Ukraine fest: „Krieg bringt das Schlechteste im Menschen hervor, das oft erneut zu Gewalt und Leiden führt.“

Die jetzt wachsende Unsichtbarkeit der Kriegssituation sei das Gefährlichste, „nämlich, dass in naher Zukunft die Menschen in den besetzten Gebieten einer Gewaltherrschaft ausgesetzt sind, die vor den Augen der Öffentlichkeit weitgehend verborgen gehalten wird.“ Das sei in den vergangenen Jahren in besetzten Gebieten wie im Donbass so passiert. Auch wenn die Kämpfe weniger heftig werden, fliehen weiter Menschen aus ihrer zerstörten Heimat, werden unter Druck gesetzt, entführt und zum Teil umgebracht. Das ist viel weniger sichtbar als ein Luftangriff im heißen Krieg und wird von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen. Aber es zerstört dauerhaft Menschen und ihr Land. Ich musste unmittelbar dabei auch an den weltweit beachteten, speziellen Dank an die Journalisten von Papst Franziskus bereits zu Beginn des russischen Angriffskrieges denken. Gerade sie würden zum Teil unter Einsatz ihres Lebens über das Grauen des Krieges informieren. Erst durch sie werde ermöglicht, „die Tragödie dieser Bevölkerung hautnah mitzuerleben und die Grausamkeit eines Krieges zu beurteilen.“

Hoffnung auf die innere Kraft

Die Bilder setzen mir zu. Sie mögen uns überfordern, und zu viele Bilder können uns tatsächlich abstumpfen. Aber erst durch das achtsame Hinschauen auf wahrlich Leidende und ihr Antlitz kann unser Herz im Innersten bewegt werden. Es kann ungeahnte Kräfte mobilisieren – und ein übermenschliches Miteinander möglich machen. Ein sehr wacher Künstlerfreund hat mich daran erinnert, dass Bilder himmelschreienden Leidens Unschuldiger provozieren müssen; „pro-vocare“ bedeutet, dass sie uns „heraus/hervor rufen“. Weil ja Bosheit und Gewalt zutiefst ungerecht sind. In den christlichen Kirchen auf der ganzen Welt sollen uns die Kreuze dafür sensibilisieren, dass sich Jesu Leiden mit den unzähligen Schmerzen und Kreuzen von heute verbinden. Das heißt, dass der Mensch eben nicht allein gelassen wird, und letztlich das Leben und die Güte stärker sind alles erdenklich Böse!

Wunder inmitten der Wunden

Wenn uns die Bilder zuallererst still werden, verweilen lassen – kann das Herz sprechen. So will auch in dieser Tragödie der mit realen Bildern vertraute Hans Georg Mockel die Hoffnung nicht aufgeben. „Ich glaube, wenn die Ukrainer ihren Mut behalten und die Europäer aus ihrer ‚inneren Kraft‘ heraus handeln, besteht die Hoffnung, dass Russland seine Truppen auch wieder abzieht.“ Die Stärke des heute in der Union geeinten Europas in den letzten 70 Jahren sei doch weitgehend aus der unbeirrt friedliebenden Einstellung der Bürger und der Regierenden verbunden mit der Bereitschaft zur Unterstützung bedrohter Nachbarn erwachsen. Warum sollte das Wunder inmitten der vielen Wunden nicht möglich sein?! „Was für ein eindrückliches Zeichen wäre es, wenn in Europa Christen, Juden und Muslime – auch in der Türkei – inständig darum beten würden, dass der Krieg in der Ukraine echtem Frieden weicht und wir alle vor größerem Elend verschont bleiben, und wenn sie auch praktisch bereit wären, z. B. dafür notwendige Einschränkungen des eigenen Wohlstands zu akzeptieren.“ Diese drei Religionen sind in unterschiedlicher Weise mit der Ukraine seit Jahrhunderten eng verbunden.

 

Gemeinsam Frieden stiften

Nicht nur mein Freund Hans Georg, Papst Franziskus, und viele andere spornen mich an, jetzt zu diesem Schulterschluss aller einzuladen, damit wir spirituelle genauso wie aktive Kräfte über alle Grenzen hinweg für das Engagement in dieser Not mobilisieren. Jetzt müssen wir allzu fixe Schubladisierungen zurückweisen, in die wir einander bisher gesteckt haben. Es geht für mich um ein gemeinsames Umdenken, ja um eine Umkehr! Ich werde gebraucht, und ich brauche aber auch andere, damit jede und jeder ihren/seinen Teil dazu geben kann – um „Frieden zu stiften“. Menschen aufzunehmen, die jetzt zu uns fliehen, gehört praktisch ebenso dazu, wie aufmerksam zu bleiben für das, was in den besetzten Gebieten geschieht, und in der politischen Öffentlichkeit dafür einzutreten, dass die Ukraine das Recht auf einen vollen Frieden und nicht nur auf ein Einfrieren des Konfliktes hat. Mir hilft es aber, selbst mit meiner Familie, mit unserer Gemeinschaft, mit der Akademie im Figlhaus und mit unseren Freunden auszutauschen, wo und wie wir konkret helfen können. Und ja, ich möchte gerne auch mit anderen beten, und warum nicht gemeinsam um ‚Erbarmen betteln‘! Und sollte das Beten einigen schwer fallen, dann einfach von Herzen her mit zu sorgen, mit zu denken – vor allem jetzt gleich zu handeln. Ich vertraue einfach darauf, dass jeder noch so kleine liebevolle Schritt Sinn fürs große Ganze macht.

 

Otto Neubauer

Leiter der Akademie für Dialog und Evangelisation
Pädagoge & Theologe, Buchautor

otto.neubauer@akademie-wien.at

Bildquellen

  • Soldier in military uniform stands on the ruins: iStock-691128564
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