Der Ernst der Liebe


von Otto Neubauer am

Oder von einer bedrängenden Verantwortung,
die uns alle persönlich angeht.

Kaum zu glauben, was heute alles nicht mehr geglaubt wird! Und so verwundert es nicht, dass eine, die es mit dem Glauben immer besonders ernst meinte, die Welt nicht mehr versteht. Marie, sie ist Ärztin in einer Corona-Intensivstation in Tschechien unweit der österreichischen Grenze. Gleich drei Corona-Tote musste sie vor kurzem allein in einem Nachtdienst beklagen, während zwei Corona-Patienten um ihr Leben kämpften. Nicht nur nach dieser einen Nacht rang sie in den Morgenstunden völlig erschöpft mit Wut und Trauer, vor allem mit dem schieren Unverständnis, warum Menschen diese Lebensgefahren nicht wahr haben wollten und sich nicht impfen ließen.

Beim Glauben aufs Ganze gehen

Es ist noch keine 10 Jahre her, dass Marie bei uns im Figlhaus in der Endphase ihrer Medizinausbildung im Studienkolleg mitgelebt hat. Ihre herausragend aufrichtige und liebevolle Art hat mich damals schon beeindruckt. Es war offensichtlich, dass sie mit dem Glauben aufs Ganze gehen und ihr Leben vollkommen für andere einsetzen wollte. Sie entschied sich sogar, dieser Sehnsucht nach ganzer Liebe in einem ehelosen Leben um des Himmelreiches willen zum Ausdruck zu bringen. Mittlerweile höchst ungewöhnlich für unsere Zeit. Heute ist sie tatsächlich Ärztin und gleichzeitig „geweihte Schwester“ innerhalb der kath. Gemeinschaft Emmanuel. Nicht zuletzt, weil es Herzstück dieser gemeinschaftlichen Berufung ist, die Gottesliebe aufs Engste mit der ‚Kompassion‘, d. h. einem Mitleiden, Mitfühlen für die Leidenden dieser Welt zu verbinden. Das heißt, dass in diesen Tagen Maries Berufung völlig an die Corona-Leidenden gebunden, ja „geweiht“ wird.

Wer sehen will, der sieht

Wie ernst nun dieser ihr Glaube und ihre Liebe herausgefordert werden – und das nicht nur angesichts ihrer physischen Überbelastung, bemerkte ich erst, als ich sie um einen kurzen schriftlichen Bericht ihrer Erlebnisse bat. Ich war irritiert, dass sie solch eine Erzählung zurzeit als wenig sinnvoll erachtete. Denn „wer sehen will, der kann alles sehen. Dazu gibt es unzählige veröffentlichte Berichte. Die Fakten können nicht klarer sein. Wer hingegen nicht sehen will, der… wird sich auch nicht durch meine Worte überzeugen lassen.“ Das war hart. Und dazu mischten sich meine anderen quälenden Fragen: Warum es nicht selten auch Gläubige sind, die das unglaubliche Leiden in den Spitälern weg zu blenden scheinen? Ist es denn wirklich so, wie eben erst ein besorgter Bischof meinte, dass selbst Frömmigkeit blind für das Leiden anderer machen könne?

Die Stunde der Wahrheit

Papst Franziskus hat in seiner letzten Enzyklika Fratelli Tutti jegliche Verurteilung – in welche Richtung auch immer – zurückgewiesen, aber sehr wohl den Ernst der Liebe klar gemacht. Immer neu würden wir gleich der biblischen Erzählung vom Barmherzigen Samariter in eine „Stunde der Wahrheit“ geführt. In diesem Beispiel sind nämlich zwei Fromme an einem Schwerverletzten vorüber gegangen. Ein Samariter hingegen, damals ein verachteter Ausländer, hatte sich seiner angenommen: „Es gibt einfach zwei Arten von Menschen:“, so der Papst, „jene, die sich des Leidenden annehmen, und jene, die um ihn einen weiten Bogen herum machen … In der Tat fallen unsere vielfältigen Masken, unsere Etikette, unsere Verkleidungen: Es ist die Stunde der Wahrheit. Bücken wir uns, um die Wunden der anderen zu berühren und zu heilen? Bücken wir uns, um uns gegenseitig auf den Schultern zu tragen?“

Wir geben nicht auf, einander zu tragen  

Das Wissen, dass es Menschen wie Marie gibt, die sich jeden Tag neu entscheiden, trotz allem das Leben anderer zu „schultern“, ist für mich mehr als ermutigend. Sie tragen in schweren Zeiten die Welt. So wie Marie nicht aufgibt, hingebungsvoll die Kranken im Spital zu betreuen und zu retten versucht, so dürfen wir nicht aufgeben, umeinander zu kämpfen. Auch wenn es uns sehr viel abverlangt und wenn es klare Worte zu sagen gilt. Und ich gestehe, bei der kürzlich so strengen Mahnung der über 90-jährigen Überlebenden des NS-Regimes und Ärztin mit jüdischer Herkunft, Lucia Heilmann, wollte ich als allzu Harmoniebedürftiger gerne weghören: Es sei „eine Sünde, dass die Geimpften nicht lauter sind. Es geht doch um Menschenleben!“ Diese Worte haben mich zutiefst aufgewühlt. Mir wurde klar, dass es hier um mehr als um eine Meinungsfrage geht. Es trifft mich als starke persönliche Anfrage. Jetzt ist meine Entscheidung für eine ernsthafte Mitsorge gefordert, die meine kleine Welt weit überschreitet.

Füreinander Lebensretter

Ja, eine anspruchsvolle Liebe hat zuweilen ein kaum zu ertragendes Gewicht. Aber gleichzeitig spornt sie mich an, gerade im Mittragen-Wollen, auch im Ernstnehmen verschiedenster Ängste, die Faszination eines neuen Miteinanders zu entdecken. Denn jede und jeder von uns, so der Papst, kann täglich an einer Revolution der Barmherzigkeit mitwirken. Und der Glaubende darf tröstend anderen zurufen: Du bist nicht allein! So wird deine Last auch leichter. Wir können aufs Neue anfangen, zunächst einander zu verzeihen – viel zu viele Anklagen haben mittlerweile das Klima vergiftet – und schließlich einander zu helfen, in vielen kleinen Schritten an einer Gemeinschaft zu bauen, die wieder achtsam hinschaut, hinhört und konkrete Zeichen setzt. Wir haben uns diese Zeit nicht ausgesucht, aber sie mutet uns zu – und das ist alles andere als übertrieben, dass wir füreinander Lebensretter sein dürfen und müssen.

Otto Neubauer

Leiter der Akademie für Dialog und Evangelisation
Pädagoge & Theologe, Buchautor

otto.neubauer@akademie-wien.at

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