Warum das Theater politisch ist


von Katharina Lehner am
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Kommunikation und Dialog

Kommunikation ist im politischen Diskurs immer ein aktuelles Thema. Es fällt allerdings auf, dass dabei oft wenig tatsächlicher Dialog stattfindet. Das Platzieren der eigenen Botschaft scheint gegenüber einer sachorientierten Debatte oft in den Vordergrund zu rücken. “Botschaft” ist dabei auch nicht immer mit politischen Inhalten gleichzusetzen: Es ist der Eindruck bei den potenziellen Wähler*innen, der zählt.

Wahlen sind das Schlagwort, das die öffentliche Diskussion über Politik in den kommenden Monaten entscheidend prägen wird. Dementsprechend heiß umkämpft sind auch die potenziellen Wähler und Wählerinnen, die sich auf die eine oder die andere Seite schlagen sollen. Denn das aktuelle politische Feld teilt sich in möglichst klar voneinander abgegrenzte Gegenpole. Es geht um Antagonismen, im Zentrum stehen die Kontrahent*innen: die Parteien, aber vor allem deren Spitzenkandidat*innen. Der Begriff Wahlkampf wird hier wörtlich genommen. Die Waffe ist rhetorisch perfektionierte Politikkommunikation, das Ziel: die anderen Kandidat*innen zu besiegen. Die eigentlichen Inhalte geraten im aufgewirbelten Staub dieser politischen Arena dabei manchmal aus dem Blickfeld.

 

Agonismus statt Antagonismus

Auseinandersetzungen sind ein grundlegendes Merkmal des Politischen. Sie kategorisch abzulehnen birgt die Gefahr, weniger dominante Positionen zu unterdrücken, und wäre demokratiepolitisch fragwürdig. Die Politikwissenschafterin Chantal Mouffe schlägt daher den Agonismus als produktive Form der politischen Auseinandersetzung vor. Anders als im antagonistischen Konflikt, in dem sich zwei verhärtete Positionen ohne Verhandlungsspielraum gegenüberstehen, gibt es in agonistischen Auseinandersetzungen einen legitimen Austragungsraum für Kontroversen, der eine produktive Verhandlung ermöglicht und so der Verfestigung von Gegnerschaft zu feindlichen Positionen vorbeugt. Agonismus beschreibt also ein Modell für politische Diskussion, das Konflikte weder negiert noch eskaliert und statt der Kontrahent*innen die Inhalte ins Zentrum der politischen Arena rückt.

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Aber was bedeutet es, wenn der Fokus mehr auf der Wirkung der Darstellung – und der Darstellenden – liegt, als auf dem Inhalt des Kommunizierten? Ist eine Auseinandersetzung mit politischen Inhalten jenseits von rhetorischen Fassaden in der Praxis möglich? Ich glaube, dass ein möglicher Ansatzpunkt dafür in einem Medium liegt, das sich aus seiner Natur heraus mit Repräsentation beschäftigt und gerade dadurch das Potenzial birgt, die reine Repräsentationsebene zu überwinden. Das Theater schafft einen Raum für Öffentlichkeit, in dem politische Inhalte agonistisch statt antagonistisch verhandelt werden können.

 

Wieso Theater?

Aber wie schafft es das Theater des 21. Jahrhunderts, eine tatsächliche gesellschaftspolitische Relevanz zu entfalten? Meine erste Assoziation zu dieser Frage ist Aristoteles. Das mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, aber ich komme gerade aus einer achtstündigen Theaterperformance, die mir die kathartische Wirkung von éleos und phóbosRührung und Schaudern – eindrücklich und am eigenen Leib vor Augen geführt hat. Und nicht nur vor Augen, vor alle Sinne. Die installative Performance Forgiveness von St. Genet beschäftigt sich mit dem mythologischen Stoff Antigones und damit mit den zutiefst politischen Themen Krieg, Verantwortung, Loyalität und Gerechtigkeit.

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Die Performance setzt sich dabei das Motto des Gertrude-Stein-Zitats: „Schönheit [ist] auch dann Schönheit, wenn sie irritiert und stimuliert“. Nach zwei, drei, vier oder acht Stunden verlässt man den Saal und ist berührt. Das Gesehene ist durchaus nicht immer angenehm – St. Genet nehmen éleos und phóbos wörtlich. Aber es ist wirksam. Der Geruch nach Staub, Schweiß, Erde und Kunstblut ist mir noch in der Nase, die Schreie Antigones und der Gesang des Chors hallen in meinem Kopf nach.

 

Gesellschaftspolitischer Bezug

Forgiveness ist ein Erlebnis. Aber auch mit subtileren performativen Mitteln lässt sich dieser Effekt erzielen. Bei Markus Öhrns fünfstündigem Performancetableau Häusliche Gewalt passiert erst einmal nichts. Zu klassischer Klaviermusik beobachtet man in Echtzeit den Alltag eines Ehepaars. Darsteller und Darstellerin sind durch riesige Pappmachémasken entfremdet. Eine zärtliche Berührung, ein gemeinsames Abendessen und plötzlich – peng! – ein unvorhersehbarer Gewaltausbruch. Minutenlang liegt die Frau regungslos auf dem Boden, die Pappmachémaske hat ein Loch unter der Nase. Unruhe breitet sich im Publikum aus – ist das noch Spiel oder ist das Ernst? Muss man hier eingreifen?

Mit unglaublicher Wirkungsmacht hält uns Markus Öhrn einen Spiegel vor. Was ist meine soziale Verantwortlichkeit? Ich stehe nicht auf, denn schließlich ist das hier Theater. Die sozialen Regeln, nach denen dieser Raum funktioniert, haben mich als Zuschauerin definiert. Eingreifen wäre ein Bruch der Regeln. Ich kann mich also entspannen… Genauso, wie die Frage nach dem blauen Auge der Frau auf dem Hausflur ein Bruch der sozialen Regeln wäre: Wir kennen uns nicht, solche Dinge sind privat. Und schon ist die Entspannung vorbei.

 

“Wir müssen reden”

“Wir müssen reden” schreibt Susanne Schnabl in ihrem 2018 erschienenen Buch, einem Plädoyer für eine neue Streitkultur. Wir müssen reden, über Inhalte, die uns alle betreffen, und zwar inhaltsbasiert – ein Unterfangen, das in Zeiten rhetorisch perfektionierter Politikkommunikation und binären Oppositionsdenkens nicht so einfach ist. Wir, das ist aber auch die Zivilgesellschaft. Wir, das sind die, die sich der Inhalte, um die es geht, erst einmal bewusst werden müssen, um dann eine gemeinsame Sprache für eine fruchtbare Kommunikation finden zu können, bei der es um mehr geht, als das Gegenüber rhetorisch zu übertrumpfen.

Theater und besonders Performancekunst sind durch ihre unmittelbare Wirkungsebene, die die Zusehenden mit allen Sinnen einbezieht, ein sehr wirkungsmächtiges Kommunikationsmedium – und das meine ich durchaus politisch. Ong Keng Sen, Kurator und Theatermacher aus Singapur und Intendant des Singapore International Festival of Arts von 2014 bis 2017, hat gezeigt, wie éleos und phóbos zu produktiven Mitteln politischer Bewusstseinsbildung werden können: Unter dem Motto Open Hearts, Open Minds, Open Spaces schuf er im Rahmen des Festivals mit theatralen Mitteln einen offenen Diskussions- und Ideenraum, in dem gesellschaftliche Fragen demokratisch verhandelt werden können. Es ging Ong darum, Situationen zu kreieren, die eine Reflexion und Transformation von Einstellungen, Denkweisen, Wissen und Emotionen ermöglichen und das Potenzial bergen, Herzen, Geist und Räume zu öffnen. Im Kontext des politisch autoritären Singapur bietet das Festival einen Rahmen, um diesen Ideenraum für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

 

Ein Ort des gesellschaftlichen Dialogs

Ong nutzt dazu das kuratorische Konzept des enchantment, einen Begriff, den er von der Philosophin Jane Bennett entlehnt: Ähnlich wie auch die Performances von St. Genet und Markus Öhrn setzen die unmittelbaren Erfahrungen von Rührung und Schaudern einen Aneignungsprozess in Gang, der beim Publikum Mündigkeit und Verantwortung im Hinblick auf das behandelte Thema aufbaut: es erlangt emotionalen Wert. Ong versteht diesen Vorgang als Mittel gegen politische Desillusionierung und Zynismus angesichts gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen. Das ist für das politische Leben von entscheidender Bedeutung, denn es weckt den Wunsch zu handeln und den Glauben daran, dass ein Handeln überhaupt möglich und sinnvoll ist.

Auf diese Weise stellen enchantment – oder éleos und phóbos, um bei Aristoteles zu bleiben – Mittel dar, um politisches Engagement zu fördern und fungieren so als Motor für eine aktivierte Zivilgesellschaft. Das Theater im weitesten Sinne hat dabei das Potenzial, sowohl Mittel als auch Ort der politischen Aktivierung und des gesellschaftlichen Dialogs zu sein und so seine ureigene politische Funktion einzunehmen.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Medien-Lehrgangs 2019 als journalistische Praxis-Arbeit. Thema und Inhalt dieses Beitrags wurden durch die Autorin selbstständig gewählt und recherchiert.

 

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