Die Wirtschaftsuniversität Wien hat unter vielen Studierenden den Ruf eines Schreckgespenstes. Wo der Ursprung dafür liegen könnte und warum Studierende ständig gestresst sind. Eine Spurensuche.
– „Machen wir am Freitag einen Hardcore-Bib-Tag?
– „Ich kann aber nur bis 20 Uhr, nicht bis 22 Uhr.“
– „Das passt schon… Du, ich hoffe, wir haben bald wieder Spaß.“
Zehn Stunden in der Bibliothek. Das Skript lesen, das Wichtigste markieren, Karteikarten schreiben, wiederholen. Dazwischen eine Flasche Club Mate und einen Automatenkaffee. Hauptsache, man bleibt möglichst lang wach und konzentriert. Für viele Studierende der ganz normale Alltag in der Prüfungswoche. Auch an der Wirtschaftsuniversität Wien, der größten Universität für Wirtschaftswissenschaften in Europa. 23.800 Studierende werden dort unterrichtet.
Drei Studienrichtungen werden im Bachelor angeboten: Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Business and Economics und Wirtschaftsrecht. Erstere unterteilt sich nach einer Einführungsphase in fünf Hauptstudien. Diese erste Phase vor der Spezialisierung müssen alle Erstsemestrigen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften durchlaufen. Das führt zu fast unwirklich riesig anmutenden Einführungsveranstaltungen, die traditionell im Austria Center stattfinden. Dieses bietet Platz für alle 2700 Studienanfänger.
Mit ihnen kann man sich den Rest seines Studiums lang vergleichen. Im „Student Ranking“ ist für jeden Studierenden ersichtlich, welchen Rang man im Bezug auf den Notendurchschnitt und die Studiendauer im Vergleich zu denen, die im selben Semester begonnen haben zu studieren, einnimmt. Bei Jenny, die im sechsten Semester Internationale Betriebswirtschaftslehre (IBW) studiert, steht hier, sie gehöre „zu den besten 10 % der Vergleichsgruppe“. Sie wisse nicht, was die Intention der WU dahinter ist, vermutet aber Positives. Motivationsförderung, den Druck rausnehmen – durch direkten Vergleich mit anderen? „Wer sich selbst für nicht gut genug hält, sieht dann vielleicht: ‚Hey, ich bin ja gar nicht schlecht!‘“ Und wer weniger Druck haben möchte, gehe auch nicht an die WU. „Ich weiß selbst, dass ich mir viel Druck mache“, aber für Vieles im Studium sei ein guter Notendurchschnitt wichtig. Will man beispielsweise in die Spezialisierungen seiner Wahl, werden die Noten und die Studiendauer zuerst berücksichtigt. Sie habe auch schon von Arbeitgebern im Wirtschaftsbereich gehört, bei denen die Noten aus dem Studium vorgezeigt werden müssen. „Und wir wissen alle: Es sind nicht genug Jobs für uns alle da“, sagt sie.
Nie genug Zeit
Die Angst, auch mit einem abgeschlossenen Studium und Praktikaerfahrungen nicht in dem Berufsfeld ihrer Wahl unterzukommen, wird auch bei Jugendlichen deutlich, wie Katharina Koller, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugendkulturforschung in Wien, betont. Eine gewisse Zukunftsunsicherheit werde bereits in dieser Altersgruppe verspürt. Unabhängig von Bildungshintergrund und Geschlecht würden Jugendliche einem sehr starken Leistungsdruck ausgesetzt sein, der durch ihr Umfeld meist verstärkt werde. Bei Studierenden sei dieser Druck eher als sozialer Konkurrenzdruck und „Belastung durch sozialen Vergleich mit Mitstudierenden“ zu verstehen. 2017 konnte Koller in einer generationenübergreifenden Studie feststellen, dass vor allem Studierende aufgrund vielfältiger Verpflichtungen (Studium, (Neben-)Job und Freizeit) das Gefühl hätten, „ständig etwas erledigen zu müssen und nie genug Zeit zu haben“. Das wird auch bei der Psychologischen Studierendenberatung in Wien deutlich. Fast ein Viertel aller Studierenden, die das kostenlose Angebot in Anspruch nehmen, gibt Probleme bei Prüfungen oder dem Lernen als Anlass für ihren Kontakt an.
Spricht man mit Menschen, die vor zehn, fünfzehn Jahren einen Universitätsabschluss gemacht haben, wird häufig erwähnt, wie viel lockerer das damals alles gewesen sei. War studieren früher wirklich entspannter? Für Katharina Koller ist ein solcher Vergleich problematisch: „Retrospektive Erinnerungen von anderen sind natürlich auch immer subjektiv geprägt oder verzerrt.“ Wir erinnern uns häufig nur an die schönen Seiten, die negativen Erlebnisse werden ausgeblendet. Man möchte die Studienzeit ja schön in Erinnerung behalten.
Notendruck? Nicht bei uns!
Wie vielfältig die Erfahrungen an derselben Universität sein können, zeigt ein anderer Student. Hans-Peter studiert ebenfalls an der WU – Wirtschaftsrecht. Vor kurzem hat er seine Bachelor-Arbeit abgegeben. Während dem Studium sei er mit jedem Dreier absolut zufrieden gewesen. Wer die „Knock-Out-Prüfungen“ bestehe, schaue gar nicht mehr auf die einzelnen Noten. Die geringere Anzahl der Studierenden in seinem Fach sei vermutlich mit ein Grund für diese Auffassung. Immerhin stehen den knapp 8.000 Wirtschaftsrecht-Studierenden 12.000 angehende Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler gegenüber. Die hohe Anzahl an Mitstudierenden sieht IBW-Studentin Jenny als Grund für den hohen Konkurrenzdruck: „Wir sagen immer spaßhalber: Wir machen keine neuen Freunde, das sind alles potentielle Leute, die dir den Job wegnehmen könnten.“
Dennoch habe sie ihre Studienwahl bisher nie bereut. „Es macht schon Spaß, sonst würde ich es nicht durchziehen. Immerhin: Meine Studienwahl war keine b’soffene G’schicht“, sagt sie lachend.
„B’soffene G’schicht“ = peinliches oder bedenkliches Ereignis, durch Alkoholeinfluss erklärt oder verharmlost (ostarrichi.org); wurde von Heinz-Christian Strache, ehemaliger FPÖ-Parteiobmann und Ex-Vizekanzler, verwendet, um seine im „Ibiza-Video“ getätigten Aussagen als Nichtigkeiten abzutun.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Medien-Lehrgangs 2019 als journalistische Praxis-Arbeit. Thema und Inhalt dieses Beitrags wurden durch die Autorin selbstständig gewählt und recherchiert.