Espresso und unsinnige Lieder.
Mit Faszination verfolge ich, in welch hübscher Form die Moralkeule niederprasselt. Da schreibt uns in einem Kurzvideo das Coronavirus einen Brief, es wäre gekommen, weil es von unserem schlechten Tun so müde war. Jetzt sei es da, um uns besser zu machen. Es wolle eine neue und schönere Welt für uns erschaffen. Echt jetzt? Der Autor, der mit diesem fiktiven Brief der Krise einen Sinn geben will, möchte anonym bleiben. Irgendwie wundert mich das nicht. Das kleine Video mag mit schönen Bildern und ergreifender Musik ein paar Minuten Langeweile in den eigenen vier Wänden füllen – es ist und bleibt in meinen Augen aber eine Moralkeule.
Das Bessere-Welt-Virus
Was sagt der sizilianische Familienvater dazu, der kein Geld mehr hat, um Essen für seine Familie zu kaufen und gerade von Sicherheitspersonal daran gehindert wurde, den Supermarkt zu plündern? Was sagt die alleinerziehende Mutter im Homeoffice dazu, die ohne die physische Nähe der Großeltern kaum mehr durchhalten kann? Was sagt einer meiner Freunde dazu, der gerade im Spital mit dem Coronavirus um sein Leben kämpft? Fänden die das eine-bessere-Welt-erschaffende Virus nicht ziemlich zynisch?
Die Revoluzzerin in mir
Warum das gerade eine Revolution in mir erzeugt? Ich glaube, weil ich Christin bin – und als Mensch und Christin nehme ich die momentane Not, den Schmerz, das Leid, den Tod sehr, sehr ernst. Ich muss dem keinen Sinn hineinzwingen. Ich glaube nämlich an einen Gott, der die Not, den Schmerz, das Leid und den Tod auch sehr, sehr ernst nimmt. Sonst wäre er nicht Mensch geworden und genau in dieses Leid und den Tod hineingetreten. Gott leidet mit – mit jeder einzelnen und jedem einzelnen der vielen Menschen, die jetzt in vielfältiger Weise leiden.
Aber ich glaube auch daran, dass er aus der schrecklichsten Situation heraus Gutes machen kann. Dass er uns sogar im Sinnlosen ganz nahe ist. Dass er trotz des Schreckens und der weltweiten Not und durch das Leid hindurch immer noch den besten Weg für uns bietet. So wie er aus dem Tod heraus Leben neu geschaffen hat – Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene. Das sind meine Zuversicht und meine Hoffnung. Gott kreiert das neue Leben, nicht das Virus.
Was die Welt erwartet
Was erwartet die Welt jetzt von uns Christen, die wir an einen solchen Gott des Lebens glauben? Dass wir Corona schön reden mit der Weltverbesserung, die es bringen wird? Dass wir Petitionen an die Regierung initiieren und unterschreiben, damit wir trotz allem jetzt sofort wieder Gottesdienste in unseren Kirchen feiern können? Dass wir damit hadern, Ostern per Livestream verfolgen zu müssen? Dass wir Gott anflehen, das Virus möge uns doch bitte verschonen, aber jetzt ganz viele Menschen zum Glauben bringen?
In dem, was ich in den Gesprächen wahrnehme, erwarten Menschen, dass auch wir uns Sorgen machen, von dem vielen Leid erschüttert sind und das auch zugeben. Dass wir uns schwach und unzulänglich fühlen und trotzdem das geben, was wir eben können. Dass wir weiterhin mit ihnen teilen, was uns ganz tief in unserem Inneren trotz allem Hoffnung schenkt und Mut macht. Dass wir mit viel Sehnsucht nach Begegnung, mit Phantasie und Einsatz echte Nähe suchen. Dass wir Wege finden, diese Nähe auszudrücken und zu leben. Dass wir unsere schon längere Online-Beziehung mit Gott nützen, um die im Gebet mitzutragen, die es selbst nicht vermögen, obwohl sie es so gerne würden. Dass wir mit den Trauernden weinen und mit den Frohen lachen. Dass wir denen helfen, die Hilfe brauchen, in welcher Form auch immer. Dass wir da sind. Dass wir einfach nur da sind – ansprechbar und anrührbar. So wie Jesus es war und ist. Dass wir im ständigen Dialog bleiben – mit den Menschen und mit Gott.
Und endlich kommt der Espresso
Diesem Dialog haben wir uns im Figlhaus verschrieben. Vermutlich können wir nicht all den aufgezählten (und noch vielen anderen) Erwartungen gerecht werden, aber wir wollen es versuchen.
Wie froh bin ich momentan darüber, dass mir so viele technische Mittel zur Verfügung stehen. Noch nie waren so viele Menschen in meinen eigenen vier Wänden präsent. Ich koche mir einen Espresso und halte Telefon-Tratsch mit denen, die normalerweise zum Kaffeetrinken in mein Büro gekommen wären. Ich schreibe über Facebook meine alten Figlhaus-Freunde an, von denen ich vielleicht sogar schon lange nichts mehr gehört habe. Die Reaktionen überwältigen mich – so viel Freude über meine Nachfrage, wie es ihnen geht, so viele Chats in so kurzer Zeit. So viel gegenseitige Anteilnahme. Ich verschicke Fotos und kleine Videos mit schlecht gereimten Gedichten und unsinnigen Liedern an meine Freunde, meine Familie und die, die jetzt isoliert leben müssen. Ich lade die Nachbarn in meinem Haus zum virtuellen Austausch bei einem Glas Wein ein. Ich lächle auf der Straße beim kurzen Spaziergang die mir Entgegenkommenden an, ernte erstaunte Blicke und manchmal ein Lächeln zurück. Ich sammle all dieses Lächeln und freue mich über jedes einzelne. Das wird auch mit dem nun verordneten Mundschutz möglich sein – wenn das Lächeln aus unserem Herzen kommt und auch unsere Augen erreicht! Und ich gehe mit all den Menschen im Herzen, mit meinem Dank und meinen Bitten für sie, noch einmal Online. Diesmal mit Gott.