…oder sind wir schon so selbstzufrieden, dass erst wieder alles zusammenfallen muss, um es erneuern zu müssen? Mehr konfliktfreies reden wäre gut.
Ein Gastkommentar von Wolfgang Glass.
Zweifelsfrei leben wir in einer sehr komfortablen Zeit. Eine so lange Zeit in Frieden und Wohlstand gab es noch nicht. Wenn sich Kulturkritiker heute über Probleme der Moderne beklagen sind das eher Luxusprobleme. Es gibt keine Plagen mehr, die Menschen heimsuchen und dahinraffen. Die meisten Menschen leben heute, gemessen an historischen Standards, anständig und Frauen können sich ihr Leben so einrichten, wie es sich ihre Großmütter nicht erträumen hätten können. Auch Minderheiten sind frei und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und der Wohlstand steigt. Das alles sind vor allem auch die Früchte technischer Entwicklungen, neben all ihren Nachteilen. Einer der Nachteile ist, ob denn unsere Seele diesem Fortschritt gewachsen ist. Früher gab es die Religion, die über den Menschen stand und die Halt gab. Heute tendieren wir dazu, den technischen Fortschritt über alles zu stellen. Auch stellen wir uns selbst manchmal über alles andere, oder zumindest über jene, die nicht Mitglied unserer Echokammern sind. Doch Menschen brauchen meines Erachtens etwas über sich. Wenn es nicht die Religion ist, wer oder was ist es dann? Der andere Nachteil der technologischen Entwicklung ist, ob wir denn auch wissen wie wir Technik gut oder schlecht nützen können. Wer weist uns den rechten Weg? Unsere Weisheit ist nicht immer auf dem Stand des technischen Wissens, genauso wie auch der gesunde Menschenverstand nur der Spiegel der Vorurteile seiner ganz bestimmten Zeit ist.
Es gibt heute religiöse Fanatiker, ethnisch motivierte und dann wären da noch die politisch korrekten Fundamentalisten.
Sie alle verfälschen das Argument. Es gibt keine Wahrheit mehr, alles wird ad absurdum geführt weil die Protagonisten der jeweiligen Glaubensrichtung hemmungslos Daten manipulieren um ihre Botschaft an die Menschen bringen zu können.
Aber natürlich gibt es nicht die einzige Wahrheit. Wir nähern uns immer eines ganz bestimmten Verstehenshorizontes, wobei wir einzelne Daten beachten und andere eben nicht. Insofern sind alle unsere Geschichten natürlich eines: Geschichten, die eine Kombination von ausgewählten Daten sind und die zu einem Gesamtzusammenhang verschmolzen werden, aber sie sind sicher nicht eine fotografische Reproduktion der Wirklichkeit. Wesentlich ist das Quellenstudium, die nachvollziehbare Argumentation ist Pflicht.
Politische Korrektheit begann mit den besten Absichten, ist heute aber eher ein Hemmschuh für die Entwicklung einer Gesellschaft statt eine Bereicherung
Zu Beginn wollte man gleichen Respekt für alle erreichen – das war sehr gut. Doch mittlerweile fällt die Gesellschaft in immer mehr kleine Identitätsgruppen auseinander die absolut nichts mehr miteinander zu tun haben wollen, frei nach dem Motto: „Wann immer du mich als Anhänger einer kleinen Minderheit beleidigst habe ich das gute Recht beleidigt zu sein und dir den Mund zu verbieten. Egal wie es gemeint war“. Dadurch entsteht ein konfliktscheues reden. Dieses erreicht auch die hohe Politik bei der Entwicklungspolitik. Man kennt die Probleme armer Länder, oder korrekter gesagt, der Partnerländer. Statt aber konkret die Probleme beim Namen zu nennen spricht man lieber von „Räumen von Verbesserungen“. Statt unqualifizierte Minister, Korruption, unterfinanzierte Schulen und fehlende Rechtstaatlichkeit anzuprangern und auch darauf hinzuweisen, dass der Mangel an Fortschritt oft auch eine Frage der Kindererziehung ist, die Selbstverantwortung und Leistungswillen kleinschreibt, verweist man darauf, dass die Geldgeber einfach die Bildungsbudgets in die Höhe setzen sollen. Mehr Geld, mehr Hilfe – ist doch einfach, oder? Und statt zu sagen, dass in islamischen Schulen vielleicht mehr Zeit dem Glauben eingeräumt wird als dem kritischen Denken wird geschwiegen.
Statt Wirklichkeit mit Sprache verändern zu wollen, müsste es darum gehen, die veränderbaren Stigmata zu beseitigen, welche beispielsweise rassistische Gefühle verursachen oder verstärken. Denn die Ablehnung der Anderen ist nicht einfach einer schlechten Kinderstube von Rechtswählern geschuldet. Erst wenn man durch Sprechverbote in den Abgrund gedrängt wird kommt man nur mehr Stichprobenhaft an die Oberfläche.
Die Unversöhnlichkeit der die einzelnen Gesellschaftsgruppen heute gegenüber stehen scheint unüberwindbar
Die Polarisierung des politischen Betriebs lähmt „grosse Würfe“. National wie auch international gibt es zuhauf Probleme. Alleine, dass sich die Weltbevölkerung in den letzten 100 Jahren um den Faktor 4 erhöht hat wird zu Herausforderungen führen. Der Mensch ist für derlei viele Sozialkontakte nicht ausgelegt. Wien und Berlin sind Dörfer gegen Städte in Asien, in denen Menschen in 40 Stockwerke-Häusern eingepfercht leben, ohne irgendeinen Bezug zur Natur. Solange jeder einen Job hat, sei er auch noch so mies bezahlt oder unnötig, solange läuft es wahrscheinlich. Doch wenn wirtschaftlich schlechtere Zeiten anbrechen, klimatische Veränderungen zum Wegziehen auffordern, ethnische Spannungen als Folge zu komplexen Gräben führen, dann kann es auf einen Schlag sehr ungemütlich werden, auch bei uns im gemütlichen Nest des Westens.
Der politische Dialog müsste sich schlagartig wandeln
Es müsste eine neue Kultur des Zuhörens, dem Verständnis für das Gegenüber (ist nicht mit inhaltlicher Zustimmung verbunden) entstehen. Ebenso wie man eine Abrüstung der Worte bräuchte. Es wird einem Angst und Bang wie mit Worten aus der Vergangenheit während schrecklicher Diktaturen heute umgegangen wird. Es reicht oftmals der Schein, für den man angeblich eintreten möchte, dann kann man sich offenbar alles erlauben und durch die neuen Medien sogar vom Stammtisch-Weisen zum Celebrity der Social Media Gesellschaft werden. Alles tolle Echokammern, in denen jede kleine Identitätsgruppe wieder sich selbst feiert und beleidigt sein darf, wenn gegen sie von „den anderen“ ungerechtfertigt aufbegehrt wird.